Überlegungen zur Aufführung von "Variationen in G"
Zunächst: Was bringt man an erlerntem Wissen zu Noten mit sich: Wir lesen Noten von oben nach unten und von links nach rechts. Innerhalb einer Zeile (oder auf einem ganzen Blatt) ist oben hoch, unten tief. (Räumlich ist es fürs Cello anders herum, eine hohe Aktion ist immer räumlich tief und vice versa.) Ein dicker Punkt oder Strich ist lauter, als ein dünner Punkt oder Strich. Ein Zeichen heißt, dass man etwas tut, bei keinem Zeichen spielt man auch nicht. (In herkömmlicher Notenschrift ist auch das Nichtstun bezeichnet, als Pause. Wenn in einem Takt aber (aus welchem Grund auch immer) nichts steht, wird man nichts spielen, also auch dann eine Pause machen.) Ein gleiches Zeichen bedeutet einen im Wesentlichen gleichen Klang.
Wenn man mit all diesen Vorprägungen an die Radierungen von Ernst von Hopffgarten herangeht, teilt sich die Wahrnehmung sofort: Einerseits ist ihre Ähnlichkeit zu grafischen Partituren verblüffend und der Gedanke, sie in Klang umzusetzen liegt ganz auf der Hand. Andererseits lassen sie sich als Notentext mit den vertrauten Regeln nicht umsetzen.
Bei manchen Blättern scheint es mir sinnvoll, sie quasi von oben nach unten in mehrere Zeilen einzuteilen und diese Zeilen nacheinander zu spielen. So beginnt etwa das Thema für mich mit einer langen Pause (obere Zeile), bevor ich die untere Zeile als Tonhöhen spiele. Nur so sehe ich einen Weg, die große weiße Fläche der Grafik auch umzusetzen. Andere Variationen wiederum teilen sich in mehr Zeilen auf, wieder andere in sich überlappende Zeilen (besonders deutlich Variation 6) und schließlich gibt es zahlreiche Blätter, die ich als ein Ganzes lese. Ich bin mir sicher: Es gibt nicht den einen richtigen Weg für alle 31 Blätter, die Umsetzung muss sich immer nach dem Kontext richten.
Das betrifft auch die Eindeutigkeit von Zeichen: Es gibt zu viele Zeichen, um jedem einen eigenen Klang zuzuweisen, der sich über das ganze Stück beibehalten ließe. Als Solist am Cello kann man nicht beliebig jeden Klang mit jedem kombinieren - andererseits haben die Radierungen eine Intimität, die mit einer größeren Besetzung verloren gehen würde. Im Ergebnis kann also eine durchgezogene Linie oder eine quasi gewischte Figur an unterschiedlichen Stellen sehr verschieden klingen.
Andererseits ist es konstituierend für den Zyklus, dass von Hopffgarten die gleichen Platten mehrfach benutzt hat, erkennbare grafische Muster also mehrfach auftauchen, in neue Kontexte gestellt oder auch durch eine Drehung selber neue Kontexte schaffend. Hier gilt es, Wiedererkennbarkeit herzustellen. Aber wie auch in den Radierungen nichts genau gleich wiederkommt, so auch im Klang. Gewissermaßen geht es um Zaubertricks. Lenkt dort der Zauberer sein Publikum so ab, dass er ungestört Dinge vertauschen kann, so geht es auch hier darum, durch eindeutige Zeichen davon abzulenken, dass das, woran man sich durch dieses Zeichen erinnert, im Original doch anders war.
Bleibt die Frage der Detailgenauigkeit. Hier gibt es das gleiche Dilemma wie bereits oben erwähnt, dass ich nur ein einzelner Cellist bin, eine große Besetzung aber vieles kaputt machen würde. Genauigkeit bedeutet also ganz entschieden: So genau wie möglich. Und so viel wie möglich. Und gerade im Detail die Grafiken zu nutzen, um nicht in musikalisch/improvisatorische Stereotypen zu verfallen.
Genau an diesem Punkt weitet sich der Blick aufs Ganze: Es gibt etwas, wie eine grafische Logik, wie es auch etwas wie eine musikalische Logik gibt. Mein Ziel ist es, beides so oft wie möglich eins zu eins miteinander zu verbinden. Wo das nicht möglich ist, weil diese unterschiedlichen Logiken zu weit voneinander entfernt sind, geht es immer noch darum, etwas zu spielen was so klingt, wie eine bestimmte grafische Figur aussieht, selbst wenn das in einem "wörtlichen" Sinn falsch ist.
Das Ziel für den ganzen Zyklus ist, 32 in sich geschlossene aber aufeinander bezogene Musikstücke zu spielen. Bei denen ein aufmerksamer Zuhörer und Betrachter nicht nur klar sagen kann welches Musikstück zu welcher Grafik gehört, sondern auch zuordnen kann, welches Klangdetail zu welchem Grafikdetail gehört. Im Idealfall vertieft so das Hören die Betrachtung genauso, wie auch die Betrachtung das Hören vertieft.