Porträtkonzert mit Solowerken des Dresdner Komponisten Jörg Herchet in der Michaelskirche
Bensheim. Seit vielen Jahren veranstaltet der hiesige evangelische Freundeskreis für Kirchenmusik in der Bensheimer Michaelskirche die höchst verdienstvolle Konzertreihe "Das Komponistenporträt", in welcher neben namhaften Klassikern vor allem des 20. Jahrhunderts insbesondere auch profilierte zeitgenössische Tonsetzer mit repräsentativen Werken vorgestellt werden.
Das jüngste (und immerhin schon vierzehnte) Porträtkonzert focussierte mit dem 1943 geborenen Dresdner Jörg Herchet einen jener eigenwilligen Künstlerpersönlichkeiten aus der ehemaligen DDR, deren schöpferische und berufliche Entwicklung wegen ihrer konsequenten ideologischen Verweigerung auf erhebliche Hindernisse stieß. Nach dem infolgedessen gescheiterten Abschluss seines in Dresden begonnenen und in Ost-Berlin fortgeführten Musikstudiums konnte Herchet erst Anfang der Siebziger dank der Mentorschaft des Brecht-Kompagnons Paul Dessau (1894-1979) als dessen Meisterschüler an der Akademie der Künstler der DDR seine Ausbildung beenden.
Seit der Donaueschinger Uraufführung seiner "Komposition für Posaune, Bariton und Orchester" (1977) im Jahre 1980 erfreute sich der ab 1974 als freischaffender Komponist tätige Dresdner zwar zunehmender Resonanz im Westen (inklusive bedeutender Komponistenaufträge), blieb aber im eigenen Land weiterhin ein politisch missliebiger und daher vielfach behinderter Außenseiter.
Erst nach der Wende - im Jahre 1992 - erfolgte die offizielle Ernennung zum Professor für Komposition und Analyse an der Dresdner Musikhochschule. Im gleichen Jahr war Herchet Mitglied der Biennale-Jury für neues Musiktheater in München; 1993 erhielt er den renommierten Bodensee-Kulturpreis für Musik. Internationale Lehraufträge in Zürich (1991) und Tokyo (1992) bestätigten seine künstlerische Reputation.
Die für das Bensheimer Porträtrecital ausgewählten instrumentalen Solostücke kennzeichneten Jörg Herchet als einen ausgeprägten kompositorischen Individualisten, der sich in seiner stets genau der jeweiligen Werkidee wie dem Charakter des verwendeten Instruments angepassten Schreibweise weder von formkonditionierenden Gattungsschemata noch von (pseudo-)avantgardistischen Stilklischees beeinflussen oder gar begrenzen lässt. "Wenn du denken willst, dann musst du zu Herchet gehen": Dieser einstige Kommilitonenrat an die seit fünf Jahren bei Herchet studierende Flötistin Karoline Schule trifft offenbar den entscheidenden Punkt. Herchets Musik fordert denkende Interpreten und denkende Zuhörer, denen freilich bei aller intellektuellen Rezeption auch an sinnlicher Farben- und spiritueller Ausdruckskraft gelegen ist.
Die überraschend weiträumig-kantable Rhapsodik der beiden schlicht "Komposition 1 und 2" betitelten früheren Flötenpiècen von 1972 fand in der jungen Dresdner Eckart-Haupt-Schülerin eine geradezu hinreißend delikate und beredte Gestalterin. Klangschönere und in unprätentiöserer Manier moderne Flötenmusik dürfte in den letzten dreißig Jahren kaum entstanden sein. Eine echte Entdeckung fürs Repertoire - es muss also nicht immer Debussys "Syrinx" sein (zumal Herchet keine ausgesprochenen technischen Gemeinheiten vorsieht, sondern sehr spielbar schreibt!)
In kompositorischer wie interpretatorischer Hinsicht fast noch beeindruckender geriet die mit rund zwanzig Minuten Aufführungsdauer beachtlich extensive "Komposition für Violoncello solo" aus dem Jahre 1975. Der aus Bensheim stammende und lange in Frankfurt ansässig gewesene, aber mittlerweile in Dresden lebende Cellist und Herchet-Freund Matthias Lorenz servierte diese kontrast- wie farbenreichste Klang- und Ausdruckswelten durchschreitende einsätzige Fantasie mit stärkster virtuoser Eloquenz und kompromissloser expressiver Intensität.
Heftigste Ausbrüche und zarteste Introversionen wurden dabei jederzeit in einen fesselnd organischen Zusammenhang gestellt und zu spannendster Wechselwirkung gebracht. Der Cellospieler und -kenner Herchet hat seinem Instrument mit diesem vom ersten bis zum letzten Takt faszinierenden Meisterwerk eine große und leidenschaftliche Rede anvertraut, die in der neueren Celloliteratur tatsächlich ihresgleichen sucht (auch und gerade wegen ihrer überzeugenden Absage an oberflächlich-experimentelle Effekte oder provokative Verschrobenheiten). Dass Matthias Lorenz für diese cellistische Spitzenleistungen den enthusiastischsten Beifall des Abends erntete, schien nur allzu berechtigt.
Zwei interessante, von Otfried Miller bezwingend agil und konzentriert gebotene Auszüge aus dem organistischen Oeuvre Herchets komplettierten das gut einstündige Programm. Die siebte Nummer aus der "42 Namen Gottes" betitelten "Komposition 3 für Orgel" von 1990 präsentierte sich als apart luftige und verspielte Registerstudie, die ausgedehnte dritte Nummer aus "Komposition 1 für Orgel" von 1976 als in beinahe Messiaen'sche Farbenglut getauchte Tondichtung durchaus sogartigen Zuschnitts. Der herzliche Schlussapplaus für die drei Instrumentalisten galt sicher ebenso sehr dem fabelhaften Komponisten, der entgegen vorheriger Ankündigung selbst leider nicht anwesend sein konnte. Seine Musik war es dafür umso mehr.
Klaus Roß