Der Reihe Bach.heute liegen zwei Gedanken zugrunde:
1. Jede Bach-Suite hat ein eigenes "kompositorisches Thema", eine Herangehensweise, die alle Sätze untereinander verbindet. Deutlich wird das unter anderem daran, daß man sich - bei aller Offenheit der Form einer Suite - nicht vorstellen könnte, einen Satz zu transponieren und in einer anderen Suite unterzubringen. Sie haben eindeutig einen Zusammenhalt. In wie weit Bach dieses kompositorische Thema explizit verfolgt hat, und daß er es wahrscheinlich in ganz anderen Worten formuliert hätte, spielt dabei keine Rolle.
2. Wenn man dieses kompositorische Thema allgemeiner formuliert, lassen sich zeitgenössische Stücke finden, die ein ähnliches Thema aufgreifen. Der Blick hin und her durch die Jahrhunderte frischt die Wahrnehmung der alten wie der neuen Stücke auf.
Bach.heute orientiert sich nicht an historischer Aufführungspraxis, sondern betrachtet Bachs Suiten sozusagen als Flaschenpost durch die Zeit. Sie übermittelt uns eine Nachricht, die um so spannender wird, je mehr wir sagen können, was wir in der Zeit, in der wir leben, darin sehen. Unabhängig davon, wie es damals vielleicht gemeint war.
Die Beziehungen zwischen den einzelnen Stücken werden während der Konzerte anhand von Beispielen und Kommentaren deutlich gemacht. Zur CD gibt es einen ausführlichen Text im Booklet (und auch auf dieser Seite verlinkt).
In der 1. Suite (und damit im ersten Konzert) ist das Thema die Umfärbung gleicher Ereignisse, zum Beispiel die hier sehr dominanten Orgelpunkte, bei denen ein Ton durch unterschiedliche harmonische Zusammenhänge stets eine neue Farbe bekommt. Auch Jörg Birkenkötters "Solo" und "Splitting 14" von Michael Maierhof arbeiten, wenn auch jeweils vor einem ganz anderen Hintergrund, mit solchen Umfärbungen. "Cello Counterpart" von Hans Thomalla hingegen ist ein Stück, in dem die 1. Bach-Suite für den Komponisten immer den versteckten "Counterpart" bildete.
Eine ausführliche Beschreibung ist im Booklet-Text der ersten CD zu finden.
Programm:
Die Termine und Orte:
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Phrasierung bei Bach ist immer spannend, da die Grenzen zwischen Abschnitten häufig nicht eindeutig zu ziehen sind. In der 2. Suite hat er diesen Aspekt seines Komponierens noch weiter getrieben als gewöhnlich. Daher ist die Frage "Wo fängt etwas an - wo hört etwas auf?" für mich das Thema dieser Suite. Friedemann Schmidt-Mechau beleuchtet in seinem "Fehlversteck" insbesondere Fragen der Konzertsituation. Für Reiko Füting steht die Frage, wo das Komponieren aufhört im Vordergrund: "re-fraction: shadows" ist zweiteilig und im zweiten Teil wird die Urschrift des 1. Teiles durch neues Material übermalt. Zu diesem Stück gibt es auch noch die Palimpseste 1 und 2 in denen Geige und dann Klavier weitere Schichten hinzuschreiben. Nicolaus A. Hubers "wechselwirkung" macht den Bezug bereits im Titel deutlich.
Eine ausführliche Beschreibung ist im Booklet-Text der zweiten CD zu finden (die allerdings noch nicht erschienen ist).
Programm:
Die Termine und Orte:
"Dessen (Bachs) Suite Nr. 2 d-Moll BWV 1008 spielt Lorenz in schnellen Tempi, mit klaren Strukturen, und ohne romantisierende Attitüde. Am Ende, in einer geradezu wild expressiven Version der Gigue, scheint der alte Bach den Neutönern für einen Moment erstaunlich nah." Zur ganzen Kritik.
"Lorenz stellte Bach in sinnfälligen Bezug zu den zeitgenössischen Beiträgen des Konzertes und so sponn sich ein Faden durch alle Werke, an dessen Ende die auch interpretatorisch vollzogene Spiegelung des Bach-Werkes durch die Gegenwart stand." Zur ganzen Kritik.
"Sequenz" bezeichnet eine für Barockmusik typische Figur, nämlich die Wiederholung eines Motivs (eines Musters von Tönen) auf der nächstfolgenden Tonstufe. Sequenzen sind das Thema der 3. Bach-Suite. Die Übertragung "Strickmuster" (ohne jede negative Konnotation) öffnet den Blick auf eine weite Spanne der neuen Musik. Angefangen mit Feldmans "Projection I" von 1950 in der nur das Muster vorgegeben ist, ist der nächste Schritt die "sonate" von Bernd-Alois Zimmermann (1959/60). Dieses Hauptwerk der Cello-Solomusik des 20. Jahrhunderts repräsentiert auch eine der wichtigen westlichen Strömungen, die Serialität, in der eine Tonhöhenreihe das Muster für eine ganze Komposition abgibt. Stefan Streich stellt in seinem "Jeu de Chiffres 2" (1991-99) die Frage danach, wieviel überhaupt nötig ist, um das Muster "Musik" zu erkennen. "Solo 18" von Marcus Antonius Wesselmann (2009) ist wieder sehr viel näher an der Vorlage Bach, das Stück basiert auf zwei unterschiedlichen Mustern, die sich überlagern.
Programm:
Die Termine und Orte:
Die 4. Suite in Es-Dur BWV 1010 zeichnet sich dadurch aus, daß es in ihr immer wieder Takte gibt, die - ohne daß sie an einer hervorgehobenen Stelle stehen - wiederholt werden. Also nicht wie bei klassischer Musik im Sinne einer Reprise, sondern eher unscheinbar, geradezu versteckt. Diese wiederholten Takte haben dann unterschiedliche Fortführungen. Das ist mit "Baustein" gemeint: Genau so wie man den Takt mit der einen Folge verbinden kann, kann man es auch mit einer anderen.
Was hier also formal passiert hat seine Entsprechung in der Harmonik. Wie in keiner anderen Suite steht der verminderte Vierklang (also lauter kleine Terzen übereinander geschichtet) im Mittelpunkt. Diesem Akkord lassen sich jeweils 4 unterschiedliche Grundtöne unterlegen, da er nach moll oder Dur aufgelöst werden kann, lassen sich von ihm also ohne Weiteres 8 der insgesamt 24 Tonarten erreichen. Somit stellt er harmonisch einen ähnlichen Baustein wie die wiederholten Takte dar.
Verknüpft wird die Bach-Suite zum einen mit Attila Bozays "Formazioni op. 16" von 1969. Bozay verwendet genauso Bausteine, allerdings in einer weiter reduzierten Form: Stehen sie bei Bach an einzelnen Schnittstellen,so sind bei Bozay alle Stücke der "Formazioni" aus einzelnen Elementen die sich wiederholen zusammengesetzt.
Ein zweites neues Stück ist die "Sequenza XIV" (2002) von Luciano Berio. Wie die ganze Sequenza-Serie zielt auch das Cellostück auf einen großen melodischen Bogen, der aber immer auch wieder unterbrochen wird, dessen einzelne Teile zerschnitten werden und neu zusammengesetzt. So findet sich auch hier ein Baustein-Prinzip wieder (und die "Sequenza XIV" hat ihren Platz richtig in diesem Jahr und nicht im vergangenen, wo das Thema "Strickmuster-Sequenz" lautete).
Nüchtern betrachtet besteht westeuropäische Musik immer schon aus Bausteinen, bestimmten Tonhöhen, bestimmten Akkorden - oft auch noch inhaltlich besetzt (Dur ist fröhlich, moll traurig). Helmut Lachenmann beschäftigt sich mit dem, was jenseits dieser Bausteine im Klang auch noch vorkommt. Und damit, wie sich die anders gearteten Bausteine, die er dabei findet, wieder in sinnvolle Zusammenhänge stellen lassen.
Zu guter Letzt "Tileworks" (2003) von Tom Johnson. "Pflasterarbeiten", in denen Tom Johnson eine von Pausen durchlöcherte Melodie so oft mit sich selbst überlagert, bis eine Fläche durchgehend abgedeckt ist. Sozusagen ein musikalisches Verbundpflaster.
Programm:
Die Termine und Orte:
"In besonders radikaler Form findet sich dieses Prinzip auch In Helmut Lachenmanns "Pression" aus dem Jahr 1969. Obwohl dieses ein Sammelsurium neuer, geräuschhafter Spielweisen vereint, gelang Lorenz das Erstaunliche: Sie verbanden sich zu einer sinnlich leisen, sehr intimen Musik." Zur ganzen Kritik.
Bach.heute V - |
Gegensätze |
und ihre |
Einheit |
(2011) |
Gegensätze gibt es eigentlich immer zu viele! Um sie nutzen zu können, muß man zunächst einen Gegensatz spezifisch machen. Genau das tut Bach in seiner 5. Suite auf verschiedenen Ebenen. Um dann zu zeigen, daß diese Gegensätze eben doch nur unterschiedliche Aspekte einer Einheit sind. Über der ganzen Suite steht das Gegensatzpaar Bewegung - Stillstand. Gleich im 1. Teil des Préludes ist es aber ausgerechnet die Stelle mit der meisten Bewegung, die harmonisch still steht. Mit vielen 1/16 bewegt sich die Musik nur einen immer gleichen Akkord abwärts.
Und noch ein Beispiel zu Bewegung: In der europäischen Kunstmusik ist der Unterschied zwischen Triolen und Duolen, also der Unterteilung eines Wertes in drei bzw. zwei kleinere Werte, unüberbrückbar. Auf diesem Gegensatz bauen Gavotte I und II auf. Vereinheitlicht werden sie dadurch, daß beiden dasselbe Tempo zugrunde liegt.
Harmonisch wiederum ist aus Dominante und Tonika der denkbar größte Gegensatz gebildet. Hier schafft Bach es (in der Gavotte II) eine Melodie so zu konstruieren, daß eine kleine rhythmische Veränderung sie mal in die eine, mal in die andere dieser Möglichkeiten führt. Und in der Sarabande gelingt es ihm, Dominante und Tonika so ineinander zu verzahnen, daß beide Deutungen möglich sind, nur der Zusammenhang macht es deutlich.
Die Bewegungen der rechten und linken Hand verschmelzen beim Cellospiel gewöhnlich zu einer Einheit, die sie nicht als die entgegengesetzten Seiten des Körpers erkenntlich macht. Heinz Holliger nutzt in "trema" genau diesen Gegensatz, die Verfügbarkeit zweier Seiten, die gemeinsam einen Klang gestalten. Indem beide Hände unabhängig voneinander agieren entsteht eine Musik, die im Detail jedesmal leicht variiert, die aber im Klang diese beiden getrennten Bewegungen wieder zu einer neuen Einheit zusammenfügt. So stellt sich auch die Frage nach dem Paar Ordnung - Chaos hier in einem neuen Licht.
Jeder gegriffene Ton auf einer Saite hat gewissermaßen eine Vorder- und eine Rückseite. Die "Vorderseite", der Klang zwischen Grifffinger und Steg, ist das, was uns gewöhnlich interessiert. Robin Hoffmann zeigt uns in seinem Stück "Schleifers Methoden" beide Seiten - und wie er Klänge damit auf ganz andere Art als gewöhnlich in Bewegung bringt, so tut er das auch mit Metren. Sicherlich unbeeinflußt von den Gavotten der 5. Suite spielt gerade die Frage Duole - Triole auch hier eine Rolle.
Volker David Kirchner stellt in "Und Salomo sprach…" zwei Arten von Ausdruck gegeneinander. 1987 entstanden, mitten in der Postmoderne, kann man diesen Gegensatz aber nicht einfach so hinnehmen. Gerade die vermeintliche Schlichtheit der Form befragt das Gegensatzpaar neu, gerade auch nach historischen wie individuellen Einheiten.
Programm:
Die Termine und Orte:
Die 6. Suite in D-Dur BWV 1012 unterscheidet sich grundlegend von den vorherigen 5 Suiten. Diese waren durchgehend intellektuell geprägte Musik, bestimmt von Strukturen, die sich auf verschiedenen Ebenen wiederfinden lassen. Anders in der 6. Suite, die eine äußerst musikantische, volkstümliche Oberfläche hat. An seiner Art zu komponieren ändert Bach damit nichts, alles steht nur unter dem Vorzeichen, unmittelbarer erkennbar zu sein.
Gleich zu Beginn des Prélude zeigt sich das in den ständigen Taktwiederholungen, jeweils laut und bei der Wiederholung leise zu spielen. Dazu bilden die ersten 12 Takte eine Einheit, die dann eine Quinte höher wiederholt wird. Der Anteil dessen, was man voraussehen kann wird erhöht. Das deutlichste Beispiel aber ist die Gavotte II, die man sich auch als für eine Drehleiter komponiert vorstellen kann.
Drehleiern zeichnen sich durch liegende Klänge aus, auf kürzere Strecken hin nennt man das Orgelpunkt, was das Thema schon der 1. Suite war. Auch hier spielen Orgelpunkte eine große Rolle, aber unter einem anderen Blickwinkel: Ging es in der 1. Suite darum, sich von einem feststehenden Klang aus möglichst weit zu entfernen, so steht hier der Aspekt des engen Zusammenhanges den ein Orgelpunkt schafft im Vordergrund.
Was könnte die Entsprechung zu einer solchen Musik im 21. Jahrhundert sein? Michael Wertmüller ist ein Komponist und Schlagzeuger, der sich gleichermaßen mit avancierter Rockmusik wie auch Neuer Musik beschäftigt hat. Zum ersten Mal in der Reihe Bach.heute habe ich hier explizit einen Kompositionsauftrag erteilt. Das Stück wird erst Anfang Mai fertig sein, ich verspreche mir aber so viel davon, daß es unbesehen in der Reihe seinen Platz finden kann.
Hans Werner Henze schrieb 1949 eine Schauspielmusik zu Shakespeares "Viel Lärm um nichts". Bis auf die "Serenade" für Cello solo ist sie verschollen. Henze hat hier die Zwölftontechnik benutzt, kurz nach dem Krieg die avancierteste Kompositionstechnik, die zur Verfügung stand. Aber er setzt sie ein, um kleine Charakterstücke zu schreiben, die sich an bekannte Modelle anlehnen. Sicherlich auch durch den Zweck bedingt geht es wie bei Bach auch hier darum, ohne Verzicht auf kompositorische Ansprüche eine klar erkennbare Musik zu komponieren.
Verwickelter sind die Zusammenhänge im Hintergrund der "Choros Asikikos" von Mikis Theodorakis: In der türkischen Musik haben sich alte byzantinische Tonleitern erhalten. Der erste Schritt fand also von einer Kunstmusik in Richtung Volksmusik statt. Anfang des 20. Jahrhunderts entstand in Griechenland der Rembetiko der diese Tonleitern aus der Volksmusik aufgreift und wieder in den Bereich der Kunstmusik überführt. Mikis Theodorakis geht noch einen Schritt weiter, indem er sie dann auf ein klassisches Instrument überträgt.
Ein besonderer Dank gilt Herrn Jens Misiakievicz, der mir für die Aufführung der Bach-Suite sein 5-saitiges Cello zur Verfügung stellt.
Programm:
Die Termine und Orte:
Im Mai 2008 ist eine CD mit dem Mitschnitt des ersten Konzertes erschienen. Sie ist bei meinen Konzerten erhältlich. Der Preis beträgt 15 Euro (+ 2,50 Euro Verpackung und Versand). Es ist auch möglich, die CD per Email direkt bei mir zu bestellen. Email: matlorenz@gmx.de Programm:
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"Nicht nur sind die klangstarken Interpretationen sowohl der ersten Bach-Suite als auch der zeitgenössischen Werke überzeugend gelungen, der Hörer erhält die Gelegenheit, das Bachsche Werk mit einem modernen Vertreter zu kombinieren und nicht nur das "Thema" (in diesem Fall "Umfärbung des Gleichen") nachzuhören, sondern seinen Horizont in Bezug auf die Möglichkeiten dieses Instruments, aber auch die Möglichkeiten heutigen Komponierens zu erweitern."
Zur ganzen Rezension.