Was also ist das Besondere an der 1. Suite für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach? Bach benutzt ausführlich das, was man einen Orgelpunkt nennt, also einen gleichbleibenden Ton, zu dem es verschiedene Harmonien gibt. Sehr deutlich ist das direkt am Anfang des Prélude zu hören. In dieser Form ist das natürlich an harmonisch-tonale Musik gebunden. Wenn man die Beschreibung allgemeiner faßt, könnte man sagen, er färbt einen gleichbleibenden Ton dadurch immer wieder neu, daß er ihn in andere (bei Bach harmonische) Zusammenhänge stellt. Das Thema für Bach.heute I ist daher: Umfärbung des Gleichen.
Etwa in der Mitte weist das Prélude eine weitere Besonderheit auf: Der bis hierher bestehende Fluß bricht ab, und zwar auf der Dominante als Sekundakkord. Die Septim liegt im Baß, es ist der tiefste Ton des Cellos, das "C". Allen Regeln der Kunst zufolge muß die Septim nach unten aufgelöst werden - was nicht geht, da sie schon der tiefste Ton des Instrumentes ist. Was macht Bach also? Er löst nicht auf, sondern bleibt bis zum vorletzten Takt des Stückes auf diesem Akkord. Sich eine scheinbar auswegslose Situation zu schaffen, die wiederum unerwartete, neue Wege eröffnet, ist ein Verhalten, das in der Zusammenstellung der Stücke dieser CD eine entscheidende Rolle spielt.
Der Orgelpunkt der zweiten Hälfte des Prélude ist deswegen besonders spannend, weil er fast nie erklingt. Der Ton um den es geht ist der nach dem Stehenbleiben folgende tiefste Ton, beziehungsweise seine Oktavierung. Dieser Ton taucht nur selten direkt auf, er liegt aber in Gedanken unter allem Folgenden. Er würde durchgehend passen, natürlich harmonisch stets anders eingefärbt.
Umfärbung des Gleichen läßt sich - nicht nur als Orgelpunkt - auch in den anderen Sätzen der Suite immer wieder finden. In der Allemande etwa gibt es im 1. Teil eine lange Stelle, an der Bach - quer zu aller Melodik - immer wieder auf dem Tonpaar fis/g beharrt. Darüberhinaus ist es eine Besonderheit der Tanzsätze in der 1. Suite, daß sehr viele zunächst in der Grundtonart bleiben. Am deutlichsten ist das am Beginn der Courante. Zur Umfärbung eines Tones durch unterschiedliche Akkorde wie beim Orgelpunkt tritt damit eine andere Möglichkeit hinzu: Hier wird ein Akkord durch die unterschiedliche Anordnung seiner Töne umgefärbt. Bach nutzt also verschiedene Arten einer Umfärbung des Gleichen. Modern formuliert könnte man es so beschreiben: Eine Einheit - egal ob quer zum sonstigen Geschehen oder auch nur gedacht - kann auch vorhanden sein, wenn sie an der direkten Oberfläche nicht sichtbar ist.
Jörg Birkenkötter ist an die Komposition seines Stückes Solo für Violoncello zunächst ganz nüchtern mit der überlegung herangegangen, welche zwei hauptsächlichen Bewegungen es beim Cellospielen gibt. Für die linke Hand ist das die Vertikale, für die rechte die Horizontale. Das Geschehen der linken Hand, die im Allgemeinen für Tonhöhenunterschiede zuständig ist, überlagert in unserer Wahrnehmung aber immer das Geschehen der rechten Hand. Also hat er sich entschlossen, über weite Teile des Stückes die linke Hand quasi ruhig zu stellen und damit die Aufmerksamkeit vornehmlich auf das zu richten, was in der rechten Hand passiert. Er beginnt mit schnellstmöglichem Streichen - mit Tremolo, schnellstem Hin- und Herstreichen. über das Stück hinweg verlangsamt er nun die Bogengeschwindigkeit, bis er bei "so langsam wie möglich" angekommen ist. Und was ist dann der nächste Schritt? Natürlich - gar nicht mehr streichen, also eine ausgedehnte Pause. Birkenkötter hat sich hier einen ähnlichen Punkt geschaffen, wie Bach bei dem unauflösbaren Akkord. Von dort aus ist ein Weiterkommen nur möglich, wenn man neu denkt, in diesem Fall die bisherige Richtung der Tempoentwicklung verläßt.
Auf ganz anderem Weg als bei Bach entsteht in "Solo" eine Einheit: Die Extreme des ganz schnellen und ganz langsamen Streichens berühren sich. Ist der Ton das eine Mal durch das schnelle Hin- und Herstreichen "rauh", so das andere Mal dadurch, daß er sich bei der vorgegebenen Dauer pro Bogen nicht mehr richtig entfalten kann. Und auch hier wird Gleiches umgefärbt. Jedoch findet die Umfärbung der gleichen Tonhöhe nicht durch das (harmonische) Umfeld statt, sondern kommt vom Ton selber: Seine Klangfarbe ist in ständigem Wechsel begriffen.
Für Hans Thomalla war bei der Komposition cello counterpart das Prélude der 1. Suite von Johann Sebastian Bach der "geheime Counterpart", das "geheime Gegenüber". Thomalla beschäftigte nicht so sehr die Umfärbung des Gleichen, sondern wie Bach Vorgegebenes und Individuelles zueinander in Beziehung setzt. Vorgegeben ist etwa die Harmonik, genauso auch die Stimmung des Instrumentes. Bach paßt sich am Anfang des Prélude an beides an, an das Instrument und an die Harmonik. Nur eine kleine Freiheit nimmt er sich und legt damit einen Keim von Melodik: Eine Wechselnote zu a. Freiheit insofern, als diese Note durch nichts vorgegeben ist und genau so auch ein c1 sein könnte. Diesen kleinen, melodisch-individuellen Schritt baut Bach dann immer weiter aus. Zunächst fügt er in das Muster der Akkorde einzelne melodisch bewegte Takte ein. Nach dem Stehenbleiben in der Mitte verzichtet er lange Zeit ganz auf das Akkordmuster des Anfangs und gibt sich nur noch der Melodie hin. Aber auch sie entwickelt er zu einem Punkt, an dem es nicht weitergeht, beziehungsweise an dem sie ihren Sinn verloren hat: Kurz vor Schluß ist die Melodik auf einen chromatischen Aufgang reduziert, der zurück zum Akkordschema des Anfangs führt, jetzt allerdings von oben nach unten statt von unten nach oben.
Nun leben wir knapp 300 Jahre nachdem Bach die Suiten komponiert hat, und das eine oder andere hat sich tatsächlich geändert. Zum Beispiel hat sich die ganze Spieltechnik auf dem Cello so weiterentwickelt, daß es zunächst schwer ist, das Instrument als etwas Vorgegebenes zu empfinden. Ganz zu schweigen davon, daß Regeln wie das harmonische System aus Bachs Zeit weggefallen sind. Um die Ebene des Vorgegebenen trotzdem zur Verfügung zu haben, fordert Thomalla vom Spieler, einen Gummiklotz unter zwei Saiten zu schieben. Damit sind auf diesen blockierten Saiten nur noch wenige Klänge möglich, die durch die Bauweise des Cellos und die Plazierung dieses Klotzes vorgegeben sind. Eine bewußte Einschränkung, deren Ziel es ist, den Aspekt der instrumentalen Abhängigkeit wieder bemerkbar zu machen (ähnlich übrigens zu Birkenkötter, der auch eine Ebene beschränkt um die andere erkennbar zu machen).
Analog zu Bach hat Thomalla das Individuelle in die Melodie gelegt. Dem stehen als Vorgegebenes die begrenzten Töne auf den blockierten Saiten gegenüber. Das Verhältnis dieser beiden Ebenen zueinander bestimmt den 1. Teil seines Stückes. Und auch hier wird ein Punkt erreicht, an dem es so nicht mehr weiter geht, nämlich wenn sich subjektive Melodie und objektive Vorgabe der Cellosaiten auf einem einzigen Ton begegnet sind. Pauschal könnte man sagen, daß Bach und Thomalla von hier ab getrennten Konzepten folgen. Während bei Bach die objektive Harmonik zum Schluß der aus dem Ruder gelaufenen subjektiven Melodik eine Stütze bietet, setzt Thomalla auf Subjektivität: Der Klotz wird entfernt und das Stück geht auf allen 4 Saiten weiter.
Michael Maierhof benutzt in Splitting 14 Klänge, die sozusagen eine institutionalisierte Umfärbung sind. Er forscht immer wieder nach neuen Methoden, klassischen Instrumenten bisher ungehörte Klänge zu entlocken. In diesem Stück sind das Untertöne, also Klänge, die entstehen wenn man "mit zu viel Druck und zu langsam" streicht. Viele davon kann man stabil spielen, ihn interessieren aber besonders diejenigen, die von selber kippen. Grundsätzlich läßt sich das auf zwei Wegen erreichen. Einerseits durch Bogentechnik, also dadurch, daß man den Ton so streicht, daß er weder auf dem einen noch auf dem anderen Unterton stabil wird und immer hin und herkippt. Andererseits dadurch, daß man die Resonanzen des Cellos ausnutzt. Wenn man einen Unterton spielt, den es auch als leere Saite gibt, fängt diese Saite an mitzuschwingen. Da aber jeder Ton leicht in der Tonhöhe schwankt, entsteht manchmal eine genaue Resonanz, manchmal bilden sich Interferenzen, weil der gestrichene Ton gerade etwas höher oder tiefer ist. Und das hat für den Gesamtklang erstaunlich große Konsequenzen.
Gemeinsam ist beiden Methoden, daß zwar ein Feld von Möglichkeiten genau festgelegt ist, man aber nicht vorhersagen kann, was zu einem bestimmten Zeitpunkt exakt passieren wird. Dieser Aspekt ist es auch, der Maierhofs Komponieren von Vielem, was es an spieltechnischen Experimenten noch gibt, abhebt. Felder, die sich in ihrer Gesamtheit vorhersagen lassen, aber nicht im Einzelnen, sind in moderner Naturwissenschaft immer wieder anzutreffen. Aber auch viele Aspekte der Massengesellschaft lassen sich ähnlich beschreiben. Die Frage, wie man in einem Kunstwerk solche Zustände erreichen kann und wie man dann mit ihnen umgeht, ist hoch aktuell und weist über den eingeschränkten Rahmen der Kunst hinaus.
Umfärbung des Gleichen ist die Gemeinsamkeit mit Bach. Bach geht aber immer von einer Einheit aus, die umgefärbt werden kann. Bei Maierhof ist das Ziel, aus Umfärbungen wieder etwas wie eine Einheit - und sei es zunächst nur die des Werkes - entstehen zu lassen.