Bernd-Alois Zimmermann und die Zeit

Vortrag am 28. Juni 2001 in Dresden.

quid est ergo tempus?
si nemo ex me quaerat, scio;
si quaerenti explicare velim, nescio.
Aurelius Augustinus

Zimmermann Intercomunicazione bis 1. Klaviereinsatz spielen.

Was Sie eben gehört haben sind die ersten 96 Takte von Bernd-Alois Zimmermanns Stück "Intercomunicazione" gewesen. Sie sind auch im Original für Cello allein, zu Beginn des jetzt folgenden Abschnittes wäre ein erster Akkord des Klaviers gekommen. Dieser Anfang ist durchgehend zweistimmig, in der oberen Stimme dauert jeweils ein Ton 10½ Takte, danach folgen 1½ Takte Pause, zusammen also 12 Takte, d.h. 8 Töne in diesen 96 Takten. In der unteren Stimme ist diese Abfolge vertauscht, sie beginnt mit einer Pause von 1½ Takten, dann folgt ein Ton von 7¼ Takten Dauer. Eine Abfolge dauert hier also 8¾ Takte. 11 Folgen davon ergeben 96¼ Takte. Da der letzte Ton um ¼-Takt verkürzt ist, dauert auch die untere Stimme genau 96 Takte. Halten wir zunächst fest: In einer Stimme gibt es 8 gleichmäßige Ereignisse, während in der anderen in der gleichen Zeit 11 auftauchen.

Die Tonhöhenstruktur ist nicht ganz so regelmäßig, wobei leider nicht klar ist, in wie weit Abweichungen einfache Schreibfehler Zimmermanns, in wie weit sie kompositorische Entscheidungen sind. Das Grundmodell ist, daß ein Ton in Vierteltonschritten aufgefächert wird, in der Unterstimme also Es, Es-¼, E-¼, D, E, in der Oberstimme A, B-¼, A-¼, B - soweit der regelmäßige Teil. Die beiden Kerntöne stehen dabei im Tritonusverhältnis.

Anhand der Obertonreihe lassen sich einige einfache Schwingungsverhältnisse für Tritoni feststellen, der erste ist 7:10 (von C ausgehend also b und e), der nächste 8:11 (c und fis), dann 9:13 (d und as). Mit anderen Worten, das Zeitverhältnis der beiden Ereignisse im Großen entspricht genau dem Schwingungsverhältnis der Kerntöne im Kleinen.

Ausgehend von Zimmermanns Essay "Intervall und Zeit" (1957) möchte ich versuchen zu zeigen, was Zimmermann dazu veranlaßt haben könnte, so zu komponieren. Zum Verständnis Zimmermanns wiederum scheint es mir wichtig, zunächst einen kleinen Exkurs zu Augustinus zu machen, auf den Zimmermann sich in Fragen der Zeit immer wieder beruft und den er auch in "Intervall und Zeit" stärker hervorhebt als alle anderen Philosophen die er ebenfalls heranzieht.

Aurelius Augustinus hat von 354-430 gelebt. In seinem Werk "confessiones" - "Bekenntnisse" bezieht sich das ganze 11. Buch auf die Frage der Zeit. Dabei steht es für ihn außer Frage, daß es etwas wie Zeit gibt, im Gegensatz zur Ewigkeit, der ewigen Gegenwart Gottes. Ohne Zeit kein Werden und Vergehen (und vice versa), zur Schöpfung der Welt gehört auch die Erschaffung der Zeit. Mit der es aber eine eigene Bewandtnis hat. Ein kurzes Zitat aus dem 14. Abschnitt: "Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich fragt, weiß ich's, will ich's aber einem Fragenden erklären, weiß ich's nicht. Doch sage ich getrost: Das weiß ich, wenn nichts verginge, gäbe es keine vergangene Zeit, und wenn nichts käme keine zukünftige. Aber wie steht es nun mit jenen beiden Zeiten, der vergangenen und zukünftigen? Wie kann man sagen, daß sie sind, da doch die vergangene schon nicht mehr und die zukünftige noch nicht ist? Die gegenwärtige aber, wenn sie immer gegenwärtig wäre und nicht in Vergangenheit überginge, wäre nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit."

Wobei sich Augustinus für die Frage der physikalischen Zeit nicht interessiert, genauer, für die Frage wie Zeit mechanisch meßbar wäre. Kalender, Uhren etc. spielen keine Rolle, im Gegenteil: Er bringt ein Beispiel mit der Sonne: Wenn wir einen Tag von Aufgang bis Aufgang definieren und die Sonne diese Strecke statt in den gewohnten 24 Stunden in der halben Zeit zurücklegte, könnten wir das immer noch feststellen. Die Bewegung der Sonne ist nicht die Zeit, sie könnte uns zwar ein Maß bieten, aber sie bewegt sich in der Zeit. Zeit ist also etwas anderes, zu dessen Erkenntnis uns die Meßbarkeit nicht weiterhilft. So vertieft er auch die Frage, woran wir merken würden, daß der Tag dann nur 12 Stunden hatte nicht weiter, sie hilft bei seiner Fragestellung ohnehin nicht. Die Frage der Meßbarkeit beschäftigt ihn nur insofern, als er damit Fragen unserer Zeitwahrnehmung klären kann, in der wir nämlich trotz allem lange und kurze Zeiten, gleichlange und kürzere unterscheiden können.

In einem lateinischen Gedicht gibt es kurze und lange Silben. Die einen können wir an den anderen messen, genauso kurze und lange Versfüße, Verse, Gedichte. Was aber alles nur eine relative Messung ist, denn immer kann ein Gedicht noch schneller oder langsamer vorgetragen werden. Zeit ist eine Ausdehnung (distentio), in der das passiert. Eine Ausdehnung von was?, fragt Augustinus. Eine Ausdehnung des Geistes. Alle Versuche zu messen scheitern daran, daß die Gegenwart für sich keine Ausdehnung hat, in der Vergangenheit kann ich aber nichts messen, weil es bereits nicht mehr ist. Ich kann also nur die Eindrücke im Geist, das, was von Ihnen im Gedächtnis geblieben ist, messen. Und wie sich die Vergangenheit über die hinterlassenen Eindrücke messen läßt, so gibt es auch eine Erwartung des Zukünftigen (die als eine Erwartung ebenfalls gegenwärtig ist). Dafür gibt Augustinus ein berühmtes Beispiel (Aug conf. XI, 28): "Ich will ein Lied aufsagen, das ich kenne. Ehe ich anfange, richtet meine Erwartung sich auf das Ganze, habe ich aber begonnen, nimmt das, was ich von der Erwartung abgepflückt und der Vergangenheit überliefert habe, in meinem Gedächtnis Platz. So zerlegt sich diese meine lebendige Tätigkeit in die Erinnerung dessen, was ich aufgesagt habe, und die Erwartung dessen, was ich noch sagen will. Gegenwärtig dagegen ist mein Aufmerken, durch welches das Zukünftige hindurchschreiten muß, daß es zur Vergangenheit werde. Je mehr das nun fort und fort geschieht, um so mehr wird die Erwartung verkürzt und die Erinnerung verlängert, bis die ganze Erwartung aufgezehrt ist, wenn jene ganze Tätigkeit abgeschlossen und in Erinnerung übergegangen ist."

Mit anderen Worten: Die Zeit, die unbestreitbar vergeht und sich an keiner Stelle fassen läßt, wandelt sich in der Wahrnehmung des Menschen in Gegenwart um, genauer müßte man also von einer Gegenwart des Vergangenen (also memoria / Erinnerung), einer Gegenwart des Zukünftigen (also expectatio / Erwartung) und schließlich der Gegenwart des Gegenwärtigen (also contuitus / Anschauung) reden (Aug conf. XI, 20). Damit erst wird Zeit überhaupt meßbar, damit gewinnt die Gegenwart an Ausdehnung und im religiösen Kontext von Augustinus ist das auch ein Abglanz von Gottes Ewigkeit (also ewiger Gegenwart), der sich im Menschen widerspiegelt.

Distentio, die Ausdehnung der Zeit, heißt auch Zerstreuung im Zeitlichen. Beide Aspekte verbinden sich in der Wahrnehmung (als erinnern, anschauen, erwarten), die durch distentio sie aufheben kann.

Bernd-Alois Zimmermann hebt als das bemerkenswerteste Phänomen unseres Hörens die Fähigkeit, "den Abstand zwischen verschiedenen Tönen zu erleben: das Intervall" hervor. Mit den Beziehungen, die die Intervallik uns liefert, können wir eine erste Ordnung in das Tonmaterial bringen. Wir kennen das Intervall in zwei Gestalten: Als Mehrklang gleichzeitig (der schon beim einzelnen Ton anfängt, sofern es sich nicht um einen Sinuston handelt), als Tonschritt hintereinander. Beide Erfahrungen sind aber nur in der Zeit möglich. Zimmermann schreibt weiter:

"In der Möglichkeit der Projizierung des Intervalls, sowohl ins Vertikale als auch ins Horizontale, erscheint - vermöge der elementaren Beziehung von Intervall und Zeit - die Zeit auch in beide Richtungen projizierbar. So erleben wir Klang als "Nacheinander" der Töne im Zeitabstand Null, Tonfolge als "Gleichzeitiges", in der Zeit verschoben: Vertauschbarkeit der musikalischen Dimensionen, Identität des scheinbar Verschiedenen.
Von dieser Seite gesehen, erhält der Gedanke der Einheit der Zeit als Einheit von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft - so wie sie Augustinus im Wesen der menschlichen Seele begründet hat (...) -, dieser so moderne und zugleich uralte Gedanke, eine neue Perspektive in der Musik als "Zeitkunst" (...)."

Dieses Zitat ist an zwei Stellen gekürzt, zu seiner Fortsetzung kommen wir gleich. Bernd-Alois Zimmermann waren seine eigenen Vorstellungen wie auch die Augustinus' so präsent, daß er es so formulieren konnte, wir hingegen müssen Zimmermanns Aussage zunächst umdrehen: Von Augustinus her bekommen Zimmermanns Gedanken zur Projizierbarkeit erst ihre Rechtfertigung. Schon eine einzelne Tonhöhe können wir nur in der Zeit erkennen (da "Ton" periodische Schwingungen bedeutet). Auch jedes Intervall, egal ob gleichzeitig oder nacheinander gespielt, braucht Zeit, um wahrgenommen zu werden. Nur durch unsere Erinnerung aber, können wir überhaupt das eine wie das andere tun. Und dann ist es in der Tat egal, ob wir das Intervall hören, weil es noch klingt oder weil wir uns an den ersten Ton noch erinnern. Genauer: Um das Schwingungsverhältnis der Töne bestimmen zu können, das sich ja immer als ein Zahlenverhältnis beschreiben läßt, müssen wir sozusagen den Ton den wir gerade hören auf den eben gehörten auflegen. Für das Nacheinander-Hören brauchen wir also das "Gleichzeitig-Hören" in der Erinnerung. So läßt sich der Gedanke der Projizierbarkeit von Zeit verstehen und er schafft eine Gleichzeitigkeit in der Anschauung die soweit reicht, wie unsere Erinnerung noch Zusammenhänge herstellen kann.

Jetzt ist auch der Moment das Zitat fortzusetzen: Der Gedanke der Einheit der Zeit bekommt eine ganz neue Bedeutung "in der Musik als "Zeitkunst", als Kunst der zeitlichen Ordnung innerhalb der ständigen Gegenwart der allumfassenden musikalischen Grundstrukturen, die wir als Ordnungsprinzip aller Verhältnisse innerhalb einer Komposition ansetzen müssen." Wie gesagt: So weit die durchs Intervall geschaffenen in der Erinnerung erstellten Bezüge reichen, soweit läßt sich "Gleichzeitigkeit" realisieren.

Es folgt ein Exkurs über die philosophische Zeitbetrachtung, die Zimmermann dahingehend zusammenfaßt, daß Intervall und Zeit keine objektive Bestimmung der Töne sind sondern im Kantschen Sinne apriorische Anschauungsformen des Subjektes, die musikalische Erfahrungen überhaupt erst ermöglicht. Zimmermann greift dann die Trennung in physikalische und Erlebniszeit (auch effektive und innere, scheinbare und wirkliche) auf. Beides spielt in Musik eine Rolle. Die effektive Zeit als physikalische Gesamtdauer des Stückes, die von Aufführung zu Aufführung veränderliche Zeitmaße haben kann - schlicht das "Tempo" - einerseits; das innere Zeitmaß, das die Proportionen der Ereignisse untereinander bestimmt und bei jedem Tempo gleich bleibt andererseits. (Nebenbei angemerkt ist Tempo damit keine musikalische Kategorie im engeren Sinne, langsame und schnelle Teile unterscheiden sich primär durch ihr inneres Zeitmaß, nicht durchs Tempo.) Was Zimmermann anstrebt ist, daß Musik eine Ordnung zwischen den Menschen und der Zeit setzt. Eine Ordnung "der Bewegung, die auf besondere Weise Zeitlichkeit zum Bewußtsein bringt und den Menschen so in einen Prozeß des inneren Erlebens von geordneter Zeit hineinbezieht; die auf Grund ihrer Kommunikation mit den Grundformen der menschlichen Erfahrung überhaupt in tiefste Erlebnisbezirke hinabreicht; die den Menschen in seiner ganzen Wesenheit erfaßt und ihm, jenseits der Erscheinungsformen der Zeit in ihrem Ablauf in der Musik, die Zeit als umfassende Einheit zum Bewußtsein bringt."

Hier spielt wieder der Begriff der distentio eine Rolle. Zimmermann zielt auf eine zumindest momentane Aufhebung der Zerstreuung in der Welt in dem weniger ein einzelnes Stück als vielmehr die Zeit selber als eine Einheit bewußt gemacht wird. Beide Aspekte der distentio spielen wieder eine Rolle, denn nur in der Zeit, in ihrer Ausdehnung, kann diese Ausdehnung negiert werden. Erreichen möchte er das, indem er alle musikalischen Verhältnisse in einer Grundstruktur zusammenfaßt, deren Ausfaltung Simultan und Sukzessiv, Metren, Rhythmen und Einsatzabstände bestimmt. Er nennt das die "für das jeweilige Werk zu konstituierende (...) Proportionierung von Intervall und Zeit."

So ist das Tritonusverhältnis - oder das rhythmische Verhältnis 8:11 am Anfang von Intercomunicazione zu deuten. Der Tritonus und der Rhythmus sind das gleiche und wie Nacheinander und Gleichzeitgig projizierbar sind, so auch die extreme Dehnung im Zeitverhältnis, die Zimmermann hier vornimmt.

Vielfältiger ist dieses Verfahren in der Sonate für Cello-solo von 1960 zu sehen. Das Stück basiert auf einer 12-Tonreihe: b - a - gis - cis - h - c - fis - f - g - d - es - e. Es gibt, wenn man Verdoppelungen bzw. Halbierungen ausläßt genau 12 verschiedene Tempi: 60 - 63 - 67 - 72 - 76 - 80 - 85 - 90 - 95 - 100 - 107 - 114. Leider ist es mir bisher nicht gelungen, ein Stimmungssystem zu finden, nach dem sich untemperiert für 12 Töne diese Schwingungsverhältnisse ergeben würden. Aber Zimmermann benutzt diese Tempi entsprechend der Tonhöhenreihe. Da die Reihe und der Krebs identisch sind gibt es auch zwei Tempoabfolgen. Im zweiten Satz benutzt er die zweite davon (in Klammern die fehlenden): 100 - (107) - 114 - 85 (d.h. eigentlich 85,5, denn dieses Tempo wird durch die 2:3 von 114 erreicht) - 95 - 90 - 126 (=63) - 134 (=67) - 60 - 80 - 76 - (72). Im dritten Satz wird das Modell ebenso deutlich ausgeführt, d.h. es sind auch nur zwei Tempi ausgelassen, allerdings statt mit der Umkehrung mit der Originalgestalt.

Den zweiten Satz habe ich als Beispiel ausgewählt, weil sich hier zeigen läßt, wie Zimmermann mit diesem Verfahren noch weiter ins Detail geht. Mit dem dritten Klang (im zweiten "Spielfeld") ist ein h erreicht (eigentlich ein Triller, der in der Druckausgabe leider fehlt). Dieses h bleibt auch der Zentralton der folgenden Stelle, die sich 5:4 auf das Grundtempo bezieht. Dann folgt eine Stelle im Verhältnis 3:2, deren Zentralton das d ist. Die Achtel unter der Quintole hat das Tempo 125, unter der Triole 150, sie stehen also im Verhältnis 5:6 das ist eine kleine Terz, genau wie h:d (wenn auch oktaviert). Weiter werden die Triolenachtel in Sextolen unterteilt, von denen die 32tel das Tempo 900 haben. Danach folgen gewöhnliche 64tel, die also das Tempo 800 haben. Das Verhältnis ist also 9:8, ein Ganzton. Und auch der Zentralton macht hier einen Ganztonschritt, von d nach e². Dieser Schritt ist allerdings nicht "in der gleichen Richtung" wie beim ersten Mal, sondern entgegengesetzt. Ein Unterschied, der m.E. in der Dynamik wieder aufgefangen wird, denn auch sie ist an den beiden Nahtstellen unterschiedlich: Beim ersten Mal haben wir mit dem Tempo- und Zentraltonwechsel auch den Wechsel von non cresc. zu poco a poco crescendo, beim zweiten mal haben wir das forte erreicht, das cresc. setzt sich aber weiter fort. Welche Logik dahintersteht, kann ich nicht sagen - einleuchtend finde ich diese Beziehung aber.

Die Reihe findet sich also in zwei verschiedenen Maßstäben, als Tonhöhenverhältnis und als Tempoverhältnis, damit in einem Kleinen und einem großen Maßstab, das Beispiel aus dem 2. Abschnitt des 2. Satzes bewegt sich in einem mittleren Maßstab. In dem Zimmermann zwar die Reihe verläßt, aber die Verknüpfung von Intervall und Zeit nach dem gleichen Muster aufrecht erhält.

Nun könnte man sagen: Natürlich, ganz gewöhnlicher Serialismus der daraus resultiert. Ja und nein. Selbstverständlich ist diese Zuordnung von Metren und Tonhöhen oder besser Temporelationen und Intervallen etwas, was unter den Begriff Serialismus fällt. Der Ansatzpunkt Zimmermanns ist aber ein anderer. Lassen Sie mich im Gegensatz dazu kurz Karlheinz Stockhausen zitieren (nach Hermann Sabbe: Die Einheit der Stockhausen-Zeit p 65, MusikKonzepte, München 1981): "Wenn die Welt in Frieden ist, wenn alle Dinge in Ruhe sind, alle in ihren Wandlungen den Oberen folgen, dann läßt sich die Musik vollenden. Wenn die Begierden und Leidenschaften nicht auf falschen Bahnen gehen, dann läßt sich die Musik vervollkommnen. Die vollkommene Musik hat ihre Ursache. Sie entsteht aus dem Gleichgewicht. Das Gleichgewicht entsteht aus dem Rechten, das Rechte entsteht aus dem Sinn der Welt. Darum vermag man nur mit einem Menschen, der den Weltsinn erkannt hat, über die Musik zu reden. Die Musik beruht auf der Harmonie zwischen Himmel und Erde, auf der Übereinstimmung des Trüben und des Lichten."

Hier ist Musik Abbild eines höheren (Welt-)Sinnes, Serialität eine Methode um eine solche höchste Einheit zu erreichen. Auch wenn es ein nachgeordnetes Ziel gibt, ist das primäre Ziel doch eine Ordnung des Materials. Bei Zimmermann scheint mir die Ordnung nur ein Zwischenschritt zu sein, der eine bestimmte Wahrnehmung ermöglicht. Da wo bei Stockhausen die Ordnung steht, steht bei Zimmermann die Wahrnehmung, da wo der Weltsinn ist das Bemühen um "Grundformen der menschlichen Erfahrung überhaupt".

Ob dieser Zimmermannsche Weg tatsächlich eine gültige musikalische Form stiftet? Natürlich ist das schwer zu sagen. Meine Erfahrungen mit der Sonate sprechen aber dafür. Zum einen von mir als Spieler aus gedacht, der ich kaum ein Stück kenne, das von vorne bis hinten so zutiefst "richtig" ist. Zum anderen haben auch Gespräche mit dem Publikum immer wieder ergeben, daß die Sonate zwar als sehr zersplittert empfunden wird, aber stets als eine Zersplitterung, die doch insgesamt wieder eine Einheit ergibt. In der Wahrnehmung und ohne daß sich im einzelnen sagen ließe, wie das denn passiert.

Womit wir wieder bei dem Begriff der distentio in seinen beiden Bedeutungen wären - aber auch am Ende meines kleinen Vortrages.

Matthias Lorenz, Juni 2001


Alle Zitate von Bernd-Alois Zimmermann aus "Intervall und Zeit", herausgegeben von Christoph Bitter, Schott Verlag, Mainz 1974

Alle Augustinus-Zitate in der Übersetzung von Wilhelm Thimme, dtv, München 1982

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